Essstörungen in der Praxis
Warum treten Anorexie, Bulimie und ähnliche Krankheitsbilder immer häufiger im Therapiealltag auf? Dieser Artikel soll auf Essstörungen aufmerksam machen. Er soll direkt Betroffenen, sowie Angehörigen und Freunden von Betroffenen einen kurzen Einblick geben, für ein besseres Verständnis und weniger Vorurteile.
Diesen Beitrag zu verfassen, war mir ein dringendes Anliegen. Des Öfteren beobachte ich Fälle von verzerrter Selbstwahrnehmung, zwanghaftem oder ausser Kontrolle geratenem Essverhalten bei Klient*innen. Wenn man die Statistiken anschaut, sind die Zahlen seit den einschränkenden Corona-Massnahmen deutlich angestiegen. Das gilt für hier in der Schweiz, wie auch für das Ausland.
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Ich selbst bin keine Psychotherapeutin aber auch als Akupressur-Therapeutin führe ich Anamnesegespräche und pflege einen regen Austausch vor, während und nach den Behandlungen. Diese spezifische Thematik begegnet mir in den letzten Monaten ungewöhnlich viel und liess mich darüber recherchieren.
Hier ist eine grobe Auflistung der häufigsten Krankheitsbilder in der Kategorie ‚Essstörungen‘:
- Anorexie/Magersucht (Anorexia nervosa)
- Bulimie/Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa)
- Binge-Eating-Störung, Esssucht (BED)
- Orthorexie; Zwanghafte Fixierung auf den ausschliesslichen Verzehr von ‚gesunden Nahrungsmitteln'. Auch mit Neigung zu übermässigem Sport. (Orthorexia nervosa)
- Vermeidende, Restriktive Essstörung/Avoidant, Restrictive Food Intake Disorder (ARFID)
- Atypische-Essstörungen; Andere Essstörungen und Verhaltensweisen, welche teilweise die Kriterien der oben genannten erfüllen.
Aufräumen mit Klischees
Es gibt einige weitere Formen dieser Krankheitsbilder und Kombinationen daraus. Essstörungen sind im Prinzip so zahlreich, wie es Betroffene gibt, da diese sehr individuell erlebt werden.
Ein verzerrtes Körperbild entsteht oft durch ein schlechtes Selbstwertgefühl und durch den Vergleich mit anderen Mitmenschen. Erste Anzeichen und Symptome der Krankheit treten häufig als Teenager auf, doch mittlerweile sind immer häufiger schon Kinder vor der Pubertät betroffen.
Grundsätzlich kann eine Essstörung keinem gewissen Alter oder einem Geschlecht zugeordnet werden.
Wichtig zu wissen ist, dass es sich hierbei um psychische Krankheiten handelt! Auch wenn die betroffene Person sich sehr mit dem eigene Körper beschäftigt und das Essen, Aussehen etc. einen grossen Platz in deren Leben einnimmt. Nicht selten wird ein solches Krankheitsbild von Stimmungsschwankungen und depressiven Phasen begleitet. Eine psychische Vorerkrankung begünstigt laut Statistik eine Essstörung.
Die Krankheit gibt eine scheinbare Kontrolle zurück, welche die Betroffenen oftmals in anderen Lebensbereichen nicht haben oder sie verloren haben.
Mögliche Auslöser dafür können sein:
- Genetische Komponenten
- Niederkalorische Ernährung
- Traumata
- Mobbing (z. B. in der Schule)
- Kommentare von Mitmenschen zum Gewicht/Aussehen
- Gestörtes Essverhalten in der Familie
- Diäten und Kalorien zählen der Eltern/Geschwister/Verwandten
- Übergewicht oder Untergewicht als Kind (Thema Gewicht/Aussehen war schon früh präsent)
- Das Betreiben gewisser ästhetischer Sportarten, wie Ballett, Kunstturnen, Reiten etc.
- Angst nicht zu genügen oder ‚ins Bild der Gesellschaft‘ zu passen.
- Angst vor dem Erwachsen werden und vor mehr Verantwortung
Bei dieser Symptomatik spielt immer die Angst mit. Z. B. die Angst zuzunehmen, die Angst vor bestimmten Nahrungsmitteln oder deren Geschmack/Konsistenz. Dazu gesellen sich meistens noch das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle. Durch die Belastung ziehen sich Betroffene vermehrt zurück und distanzieren sich von Familie und Freunden.
Mit professioneller Begleitung kann es Jahre dauern, bis eine Essstörung bessert. Die restriktiven Gedanken und das Suchtverhalten verschwinden oft nur langsam, wie viele berichten.
Im Übrigen kann Sport auch zur Sucht werden. In einigen Fällen der Anorexie und Orthorexie wird übermässig Sport betrieben, um Kalorien zu verbrennen. Die Bewegung an sich hat somit ein eigenes Suchtpotential.
Früher und teilweise heute noch, werden Essstörungen fälschlicherweise eher jungen Frauen zugeordnet. Das ist sozusagen das Klischee. Bei Männern wird dieser ‚Trend‘ aber auch vermehrt beobachtet. Der exzessive, tägliche Gang ins Fitnessstudio. Das Gewichte-Stämmen, um den Körper zu stählern und ihm ein gewisses Aussehen zu verleihen oder das Präparieren proteinreicher Nahrungsmittel.
Es ist in jedem Fall wichtig den Menschen in seiner Gesamtheit zu betrachten und ihn nicht zu schubladisieren.
Herausforderungen
Oft wird eine Essstörung von Ärzten nicht als solche erkannt oder ernst genommen, da die Anzeichen und das Verhalten der Person nicht ins schulmedizinisch-vordefinierte Raster passt. Das ist eine grosse Problematik, da Betroffene dann teilweise Gedanken hegen wie: „Ich bin nicht krank genug, um Hilfe zu bekommen.“ Oder „Anderen geht es ja schlechter als mir.“ Es entsteht eine Scham um das Thema herum und deswegen getrauen sich viele Menschen nicht in einer solchen Situation Hilfe zu suchen.
Übergewichtigen Menschen wird in der Arztpraxis oft angeraten abzunehmen. Warum und wie das Übergewicht jedoch überhaupt entstanden ist, wird meistens nicht genauer hinterfragt. Dies hat psychische und physische Folgen für die betroffene Person und kann zusätzlich belastend sein.
Bei einer Anorexie bez. Magersucht sind nur eine geringe Prozentzahl der daran Leidenden wirklich untergewichtig. Die meisten gelten laut BMI als ‚gesund‘, obwohl das Verhältnis zum Essen alles andere als gesund ist.
Mittlerweile werden Menschen, die in keine eindeutige Kategorie passen immerhin mit der Bezeichnung ‚Atypische Essstörung‘ diagnostiziert und anerkannt. Das ermöglicht ihnen ernstgenommen zu werden und baldmöglichst Hilfe zu bekommen, in Form von Therapie und Coaching.
Problematik der heutigen Gesellschaft
In der heutigen Gesellschaft wird intuitives Essen leider kaum gefördert. Es wird uns von allen Seiten gesagt, was, wie viel und wann wir essen sollen. Die Diät und Fitness-Industrie prägt unsere Vorstellung davon, was ‚gesund‘ sein soll. Nährwertetabellen, Kalorienangaben und Fitnesstracking-Uhren ermöglichen uns alles zu überwachen. Sie fördern diese starke Form der Kontrolle über unseren Körper.
Auch von Freunden, Familie und Social Media bekommen wir unzählige ‚Tipps‘ für einen ‚gesünderen Lebensstil‘. Jeder meint es besser zu wissen. ‚Gut aussehen‘ und ‚schlank sein‘ wird in unserer Gesellschaft direkt mit Gesundheit, Erfolg, Reichtum und Glück assoziiert. Wir sehen dies beispielsweise in der Marketingindustrie. Dort werben Menschen mit scheinbar makelloser Haut für Antifaltencremes und schlanke, trainierte Models wollen uns einen Diätshake schmackhaft machen. Schon alleine diese Tatsache ist gestört.
Selbst unsere Eltern und Grosseltern sind mit hunderten Ernährungsmythen grossgeworden und geben diese, wenn auch unbewusst, an die nächste Generation weiter. Als Kinder sind wir sehr empfänglich dafür, was Erwachsene oder Gleichalterige uns erzählen und dies kann unsere weitere Entwicklung massgeblich beeinflussen. Wir können noch nicht einschätzen, welche Informationen unserem persönlichen Wohl dienen und welche wir gleich wieder aus dem Speicher werfen dürfen.
Hilfe in Anspruch nehmen
Essen geniessen, heisst leben. Was bedeutet es also, wenn die täglichen Mahlzeiten zu einer Qual werden? Ganz genau! Das Leben bereitet diesen Menschen keine Freude mehr, weil die Unzufriedenheit und der Stress überwiegen.
Diese Verhaltensmuster treten oft schleichend auf und entwickeln sich über Jahre hinweg. Dabei kann es sein, dass die betroffene Person viele Jahre mit essgestörten Gedanken zu kämpfen hatte und die reale Umsetzung gewisser Muster erst um einiges später erfolgt. Genauso kann es Jahre dauern, eine Essstörung wieder loszuwerden und sich diese Freiheit im Leben wieder zurückzuholen.
Sich einzugestehen, dass man unter den eigenen Gedanken über sich selbst und unter dem Essverhalten leidet, ist ein Prozess. Es geschieht nicht über Nacht.
Jede*r hat Unterstützung und eine Therapie verdient, egal wie kurz oder lange man schon damit lebt. Ob man jung oder alt ist und unabhängig davon, woher man kommt.
Diese häufiger auftretenden Krankheitsbilder sind meiner Meinung nach ein deutliches Zeichen. Sie sind Ausdruck eines Teils unserer Gesellschaft, welcher immer mehr zu degenerieren beginnt. Es gilt die Aufmerksamkeit jetzt auf diesen Teil zu richten und die Heilung, sowie das Verständnis zu fördern.
Umgang in der Praxis
Aus Sicht der TCM und in der Therapie, ist es wichtig die eigene Körperwahrnehmung zu fördern. Dies unterstützt die Klient*in dabei mentale und körperliche Blockaden zu lösen. Gespräche sind dabei enorm wichtig. So kann gemeinsam der Ursache auf den Grund gegangen werden.
Behandlungsmethoden der TCM sind also möglich aber sie sollten idealerweise mit psychotherapeutischer Begleitung einhergehen.
Essstörungen können tödlich enden und sollten genauso seriös behandelt werden, wie andere bekannte Krankheitsbilder. Hier können Sie sich genauer informieren und gegebenenfalls Unterstützung anfordern:
Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen (SGES) Link zur Webseite
UPK – Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Link zur Webseite
Psychiatrie Baselland Link zur Webseite